Text: Elisabeth Kehl, Voliere-Gesellschaft Zürich / ProTier Ausgabe 3/2016
Foto: © A.Trepte, www.photo-natur.de

Vielleicht haben einige Besucher der Voliere Zürich im Frühjahr seltsame klagende und laute Rufe aus einer der Aussenvolieren vernommen und sich an ihre Kindheit erinnert. Möglicherweise an einen Spaziergang durch eine offene und flache Landschaft. Dies sind die unverkennbaren Balzrufe der Kiebitzmännchen gewesen, begleitet von ihren akrobatischen Flugmanövern.

Der Lebensraum der Vögel wird leider zunehmend zerstört

ursprüngliche Brutgebiete wie Ried- und Flusslandschaften trockengelegt und die Flüsse begradigt wurden, gab es bei uns in der Schweiz und in ganz Europa einen massiven Rückgang der Kiebitzbestände. Doch diese in Gruppen brütenden Watvögel liessen sich nicht vertreiben. Sie begannen auf Äckern zu brüten. Doch durch die Intensivierung der Landwirtschaft und den hohen Einsatz von Umweltchemikalien stehen diese wunderbaren Vögel leider erneut vor grossen Problemen. Der Lebensraum und die als Nahrung zur Verfügung stehenden Insekten werden zerstört.
Unser Pärchen in der Voliere am Mythenquai ist diesen Umständen zum Glück nicht ausgesetzt. Dieses Paar wurde auch nicht aus der freien Wildbahn genommen, sondern wir durften es von einer Züchterin aus der Schweiz übernehmen.
In diesem Frühling war es dann soweit. Das Männchen baute mit Hilfe seines Oberkörpers mehrere Mulden in der Aussenanlage. Seine Partnerin legte in das von ihr ausgewählte Nest ihr erstes Ei. Normalerweise besteht ein Gelege aus vier braun gefleckten Eiern, die sie innert fünf Tagen legt. Ganz selten ist ein Gelege mit nur drei oder sogar zwei Eiern zu finden. Bei uns waren es drei Eier und ein Stein. Beide Altvögel bebrüteten die Eier zwischen 21 bis 28 Tage lang und verteidigten sie vehement. In der freien Wildbahn helfen sich die Kiebitze aus benachbarten Nestern oft gegenseitig. Sie verteidigen ihre Nester gegen Räuber (meist Greifvögel) mit imposanten Luftangriffen und lauten Rufen. Bei uns in der Voliere waren der Feind Nummer eins wir, die Tierpfleger/-innen. Also beschlossen wir, im Aussengehege nur noch das Allernötigste zu erledigen, um sie nicht zu stören.

Am 29. Tag schlüpfte ein Küken – die Freude war riesig
Aber eines Morgens, am 12. Tag, lag ein aufgebrochenes Ei weit weg vom Nest. Wir konnten nur noch feststellen, dass es befruchtet war. Ob die Altvögel sich erschreckt hatten? Ob sie gemerkt hatten, dass mit diesem Küken vielleicht etwas nicht stimmte? Da Kiebitze tag- und nachtaktiv sind, konnte gut während unserer Abwesenheit in der Nacht etwas passiert sein. Aber wir hofften weiter, denn da waren noch zwei Eier und ein Stein! Am 29. Tag war es dann so weit: Ein Küken schlüpfte! Unsere Freude war riesig, und die Vögel bekamen natürlich nur die allerfeinsten Insekten.
Die Kiebitzküken sind Nestflüchter und verlassen das Nest wenige Stunden nach dem Schlüpfen. Sie werden bis zu fünf Wochen von den Altvögeln geführt, bis sie flügge sind. In der Regel werden die Küken die ersten zehn Tage vom Weibchen gehudert (gewärmt), da die Jungvögel in dieser Zeit die Körpertemperatur noch nicht selbst regulieren können. Diese Aufgabe hat bei uns das Männchen übernommen. Die Sterblichkeit der Jungvögel in der freien Wildbahn ist in den ersten zehn Tagen, besonders bei kaltem und nassem Wetter, hoch. Der Kiebitz ist grundsätzlich eine Vogelart, deren Bestand auf Grund von Witterungseinflüssen stark schwankt.
Der Stein und das zweite Ei blieben leider ohne Schlupferfolg. Doch der Kleine, der im nasskalten Mai 2016 schlüpfte, ist der Star bei uns in der Voliere – und er weiss das!